Der Bundesfinanzhof hat sich in seinem Urteil vom 18.02.2021 zum Aktenzeichen III R 2/20 mit der Frage beschäftigt, ob ein Anspruch auf deutsches Kindergeld in den Wohnsitz-Wohnsitz-Fällen besteht, wenn nur in Deutschland ein Kindergeldanspruch besteht.

Sachverhalt:

Die Klägerin ist italienische Staatsangehörige und wohnt zusammen mit dem Kind in Italien. Sie ist nicht erwerbstätig und bezieht keine Rente. Der Kindsvater ist ebenfalls italienischer Staatsangehöriger und wohnt in der Bundesrepublik Deutschland. Er ist nicht erwerbstätig und erhält Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

In Italien besteht für das Kind nach den von der Beklagten und Revisionsklägerin (Familienkasse) unwidersprochenen Feststellungen des Finanzgerichts kein Anspruch auf Familienleistungen.

Mit Bescheid vom 30.12.2014 setzte die Familienkasse zugunsten der Klägerin Kindergeld für das Kind ab Mai 2010 bis April 2023 fest. Mit Bescheid vom 05.12.2017 hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung vom 30.12.2014 für E ab Juli 2017 gemäß § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) auf.

Gegen den Aufhebungsbescheid vom 05.12.2017 legte die Klägerin Einspruch ein, der mit Einspruchsentscheidung vom 19.03.2018 zurückgewiesen wurde. Die Klage hatte Erfolg. Das FG vertrat die Ansicht, dass ein Ausschluss des unstreitig bestehenden inländischen Kindergeldanspruchs nicht von Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 gedeckt sei.

Mit der Revision rügt die Familienkasse die Verletzung von Bundesrecht.

Zu Unrecht, wie der Bundesfinanzhof nunmehr ausführt. Das Finanzgericht habe zu Recht entschieden, dass der Anspruch auf deutsches Kindergeld nicht durch Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 ausgeschlossen ist und die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung rechtswidrig war.

Anspruch auf Kindergeld ausgeschlossen: Das sind die Gründe

„Nach § 62 Abs. 1 Satz 1 EStG setzt der Anspruch auf Kindergeld u.a. voraus, dass der Anspruchsteller im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland nach § 1 Abs. 2 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist oder nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird.

Diese Voraussetzungen lagen nach den Feststellungen des FG bei der in Italien lebenden Klägerin zwar nicht vor. Das FG hat aber zu Recht einen inländischen Wohnsitz der Klägerin nach Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung –VO Nr. 987/2009 (Durchführungsverordnung)– fingiert.

aa) Im Streitfall ist der Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 eröffnet.

Die Klägerin ist Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Europäischen Union und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung. Ebenso ist das Kindergeld nach dem EStG eine Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004, weshalb auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004 eröffnet ist (Senatsurteil vom 26.07.2017 – III R 18/16, BFHE 259, 98, BStBl II 2017, 1237, Rz 13).

bb) Nach Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden. Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist bei der Anwendung von Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen.“

[…]

„b) Die in Italien lebende Klägerin erfüllt daher die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Kindergeld gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. §§ 62 ff. i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 EStG für ihr in Italien lebendes Kind, da der Kindsvater in Deutschland seinen Wohnsitz hat.

Dieser Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Kindergeld wird nicht nach Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 ausgeschlossen.

Ist der persönliche und sachliche Geltungsbereich der VO Nr. 883/2004 –wie vorliegend– eröffnet und liegen konkurrierende Ansprüche im Sinne der Verordnung vor, dann sind die Ansprüche ausschließlich nach Art. 68 der VO Nr. 883/2004 zu koordinieren. Diese Prioritätsregelung ist gegenüber § 65 EStG grundsätzlich vorrangig (Senatsurteil vom 04.02.2016 – III R 9/15, BFHE 253, 139, BStBl II 2017, 121, Rz 17, m.w.N.).

a) Das FG ist auch zu Recht davon ausgegangen, dass der Kindsvater gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der VO Nr. 883/2004 den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats Deutschland unterliegt, da er nach den Feststellungen des FG im Streitzeitraum weder eine Erwerbstätigkeit ausgeübt (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a und b der VO Nr. 883/2004) noch Leistungen bei Arbeitslosigkeit (Art. 11 Abs. 3 Buchst. c der VO Nr. 883/2004) erhalten hat. Die Klägerin unterlag nach den Feststellungen des FG jedenfalls aufgrund ihres Wohnsitzes den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats Italien, da sie im Streitzeitraum ebenfalls keiner Erwerbstätigkeit nachging. Wird der Anspruch im anderen Mitgliedstaat ebenfalls durch den Wohnort ausgelöst und ist dieser Mitgliedstaat –wie im Streitfall der Mitgliedstaat Italien– zugleich der Wohnort der Kinder, ist der Kindergeldanspruch in Deutschland nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. b Ziff. iii der VO Nr. 883/2004 nachrangig.

Im Falle der Nachrangigkeit des Kindergeldanspruchs in Deutschland wird dieser nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 der VO Nr. 883/2004 bis zur Höhe des nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrags ausgesetzt. Der an sich nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 der VO Nr. 883/2004 vorgesehene Differenzbetrag muss gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 allerdings nicht für Kinder gewährt werden, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, wenn der entsprechende Leistungsanspruch ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst wird (Senatsurteil vom 22.02.2018 – III R 10/17, BFHE 261, 214, BStBl II 2018, 717, Rz 28 f.).

b) Entgegen der Ansicht der Familienkasse bedeutet dies aber nicht, dass der Anspruch im nachrangigen Staat nach Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 auch dann ausgeschlossen ist, wenn nur ein Anspruch im nachrangigen Staat besteht, die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für einen Anspruch im vorrangigen Staat aber nicht erfüllt sind. Die Koordinierungsregel des Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 ist nur anwendbar, wenn konkurrierende Ansprüche im Sinne dieser Vorschrift vorliegen.

Im Streitfall haben die Klägerin bzw. der Kindsvater nach den den Senat bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) jedoch keinen Anspruch auf italienische Familienleistungen.

[…]

Das Urteil im Volltext auf der Seite vom Bundesfinanzhof:

https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE202150097/

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